Sorgen im Zusammenhang mit der Covid-19-Krise sind derzeit das bestimmende Thema unseres Alltags. Fast jede*r kennt Menschen, die der Risikogruppe angehören oder durch Lock-down-Maßnahmen in der Arbeitswelt in prekäre finanzielle Situationen geraten. Umso motivierender ist es, in einer solchen Krise einen solidarischen Umgang in der Gesellschaft zu beobachten. Schaut man in unsere Nachbarländer, scheint Deutschland aus medizinischer Perspektive mit einem blauen Auge davon gekommen zu sein. Die gefürchtete „Triage“ – die Entscheidung, wer aus Kapazitätsgründen noch beatmet werden kann und wer nicht – ist Deutschland erspart geblieben. Es scheint, als wäre bei uns niemand benachteiligt worden. Stimmt das?

Schätzungen gehen davon aus, dass in Deutschland bis zu 1 Millionen Menschen ohne Krankenversicherung leben. Gründe hierfür können beispielsweise ein unzureichender Versicherungsstatus, das Ausscheiden Selbstständiger aus der privaten Krankenversicherung durch Arbeitslosigkeit, oder die behördliche Registrierung nicht geduldeter Menschen bei Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen sein. Daher gehen Geflüchtete ohne sicheren Aufenthaltsstatus oder illegalisiert in Deutschland Lebende aus Angst vor einer Meldung an die Ausländerbehörde häufig nicht zu Ärzt*innen. Diese Gruppe an Menschen ist generell und gerade zurzeit besonders vulnerabel. Nicht nur die hygienische und gesundheitliche Situation in Geflüchtetenlagern wie Moria ist derzeit lebensbedrohlich. Auch auf deutschen Straßen können sich Wohnungslose aufgrund ihrer Lebenssituation nicht ausreichend vor einer Ansteckung mit Covid-19 schützen, obwohl sie durch diverse Vorerkrankungen häufig sogar zur Risikogruppe gehören. Ohne Krankenversicherung übersteigt ein Arztbesuch vor allem bei Menschen in unsicheren Situationen die finanziellen Mittel. Darüber gibt es Berichte {„Im schlimmsten Fall tödlich“, Spiegel-Artikel vom 30.03.2020}, dass die aktuelle Lage in den Krankenhäusern dazu führt, dass zunehmenden Menschen ohne Versicherung mit Nicht-Covid-19-Notfällen von Krankenhäusern abgewiesen werden. Länder wie Portugal gingen hier bereits zu Beginn der Pandemie mit positivem Beispiel voran, und gaben Menschen ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung mit dem vorübergehenden Aufenthaltsstatus auch einen Zugang zum Gesundheitssystem. Ähnliche Forderungen werden in Deutschland von der Partei Die Linke laut.

Laut Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hat jeder Mensch das Recht auf Gesundheit und ärztliche Behandlung. Daher setzen wir als Medinetz Tübingen e.V. uns mit anderen Medinetzen deutschlandweit dafür ein, dass alle Menschen denselben Zugang zu medizinischer Versorgung haben. Hierfür vermitteln wir anonym Ärzt*innen und helfen bei der Finanzierung anfallender Kosten. Langfristig sollen Strukturen geschaffen werden, die Menschen unabhängig von ihrem Versicherungs- und Aufenthaltsstatus den Zugang zum Gesundheitssystems gewährleisten. Das Ziel unserer Arbeit ist die bundesweite Einführung des „Anonymen Krankenscheins“, der allen Menschen in Deutschland eine medizinische Versorgung ohne rechtliche Konsequenz ermöglichen soll, wie es in Niedersachsen und Thüringen erprobt wurde. Das würde vor allem auch Ärzt*innen und Krankhäusern eine Bezahlung ihrer Leistungen zusichern und die Behandlung von Notfällen so selbstverständlich machen, wie sie in unseren Gesetzen festgelegt ist. In diesen ungewöhnlichen Zeiten ist es uns vor allem ein Anliegen, unsere Mitbürger*innen zu solidarischem Verhalten anzuregen. Sei es durch Rücksichtnahme im öffentlichen Raum oder die Unterstützung deutschlandweiter Initiativen für den Anonymen Krankenschein.